Ein Schritt zurück

Prolog

Die Abenddämmerung brach an jenem Herbsttag herein über Zérad'Noor, dem alten Rundturm der Magierdynastie der Vélika, und mit der Dämmerung kam das Gewitter, das sich seit Tagen angekündigt hatte. Zérad´Noor, das bedeutete Wasserschild in der Sprache des alten Reiches Crysáta. Der Turm ragte schlank in den Himmel und war höher als jedes Gebäude in der nahegelegenen Stadt Skatra. Woher der Name Wasserschild kam, darum rankten sich die Legenden. Zum einen lag er am Nadog`Nari, dem Kleinen See, zum anderen war er aus blauem Stein erbaut. Ein Schild war er, der Turm, und mehr noch die Magier, die ihn seit Jahrhunderten bewohnten und Skatra ihre Dienste leisteten und dafür von der Stadt und ihren Bewohnern hoch geachtet waren. Doch dieser Abend war anders. Ein Mob aus Skatra war vor dem Turm zusammengekommen, bewaffnet mit allem, was die Stadt hergab: einige Wachen waren mit Langschwertern bewaffnet, die Bauern, die den Großteil der Stadt ausmachten, trugen Mistgabeln, Fackeln und Sensen, die Schmiede waren mit ihren Schmiedehämmern bewaffnet. Einige wenige hatten Armbrüste. Immer wieder waren Rufe wie "Tötet ihn !" oder "Tötet die ganze Brut !" zu hören. Noch traute sich niemand, die Grenze zum Turm, die von einem kleinen Zaun markiert war, zu überqueren, auch nicht der Bürgermeister, der den Mob anführte.

Im vierten Stockwerk hatten Cómaran Túran Vélika und Candra Ansiári Evan ihr Privatgemach. Cómaran stammte aus der alten Magierfamilie der Vélika. Auch Candra war eine Magierin, die aus einer alten Familie stammte: die der Evan. Candra, die gerade einen Sohn geboren hatte und daher im Bett lag und die Rufe von draußen kaum mitbekam sagte sehr schwach zu Cómaran, der neben ihr saß und ihre Hand hielt: "Nun sind sie hier und wollen uns und unser Kind." Der Magier antwortete entschlossen: "Magiergesetz hin oder her, bevor uns die Skatraner kriegen, werden sie einen hohen Preis bezahlen. In Blut." "Liebster," sagte Candra, "ich werde in diesem Kampf nicht an deiner Seite sein können." "Ich weiß, mein Stern, ich weiß," entgegnete Cómaran sanft.
Das Magiergesetz verbot Magiern, untereinander zu heiraten und Kinder zu haben. Vor über 400 Jahren, als es noch erlaubt war, wurde ein solcher Magier geboren - Aildarin. Er war einer der mächtigsten Zauberer der letzten 2 Jahrtausende. Und er war skrupellos. Er schwang sich zum König eines kleinen Reiches auf, von wo aus er seine Pläne der Eroberung des Kontinents unter seine Herrschaft verwirklichen wollte. Auf dem Weg dahin kannte er keine Gnade, und erst der Große Zirkel, zwölf große Zauberer, die ihre Kräfte miteinander vereinten, konnte Aildarin aufhalten und töten, wobei der gesamte Große Zirkel sein Leben ließ. Um so etwas in Zukunft zu verhindern, wurde das Magiergesetz erlassen und von allen Ländern auf dem Kontinent übernommen. Wenn Magier dagegen verstießen, wurden sowohl die Eltern als auch das Kind getötet. So lautete das Gesetz. Cómaran und Candra kannten das Gesetz; es wurde als eins der ersten Gesetze überhaupt an den Magierschulen gelehrt. Aber ihrer Liebe stand es dennoch nicht im Weg. Nur bekamen es auch die Bewohner von Skatra mit. Die ersten Donner waren zu hören und Lichtblitze zuckten im Himmel. Aber es fiel kein Regen. "Zu dumm, dass ich nicht dein Talent für Heilmagie habe, mein Stern, sonst bekäme ich dich in kürzester Zeit wieder auf die Beine," sagte Cómaran. Er stand auf und ging zum Turmfenster, durch das er den Mob sehen konnte. "Noch haben sie Angst und trauen sich nicht. Fragt sich nur, wie lange noch," sagte er. "´Wenn der Wasserschild fällt, wird auch Skatra nicht mehr leben,´" zitierte Candra eine alte Prophezeiung. "Das wird sie wohl kaum davon abhalten, nicht vielleicht doch den Turm zu stürmen," entgegnete Cómaran bitter, "und ich weiß nicht, wie lange ich sie aufhalten kann. Ein paar von ihnen könnte ich mit ein paar kleinen Zaubern einschüchtern, vielleicht sogar vertreiben, aber die fordern unser Blut dermaßen vehement, dass ich nicht glaube, dass sie alle nach Hause gehen." Ein neuerlicher Donnerschlag weckte den Sohn der beiden Magier auf, der sofort zu schreien anfing. Cómaran ging zur Wiege und nahm den Kleinen in seinen Arm. Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Cómaran, der zu seinem Sohn sagte: "Támuin Evan Vélika, Sohn zweier Magier. Geboren in eine Welt, die dich nicht will, doch wie immer es ausgehen wird, deine Mutter und ich, wir lieben dich." Cómaran musste schwer schlucken, und doch rann ihm eine Träne aus den Augen. Er wog seine Sohn leicht hin und her und ging mit ihm zu Candra. "Du weißt, was wir besprochen haben ?" fragte er sie.
"Du meinst den Großen Schritt ?" entgegnete sie schwach.
"Selbst, wenn ich denen da draußen einen hohen Blutzoll abverlangen, werden meine Kräfte irgendwann am Ende sein. Und du bist im Moment viel zu schwach. Früher oder später wird das hier unser Ende sein, das ist so unausweichlich wie der Aufgang und Untergang der Sonne," erklärte Cómaran. "Ich verstehe, Blut meines Herzens, und ich wünsche dir Glück, wo immer du hingehst. Ich wünschte, ich könnte mit dir kommen," antwortete Candra. Nun fing auch Candra an zu weinen. Cómaran gab ihr ein letztes Mal Támuin. Sie küsste ihren Sohn, der immer noch schrie, und sagte: "Wo immer du hingehst, wirst du es besser haben. Wie gern hätte ich dich großgezogen." Dann gab sie ihn Cómaran zurück. "Geht schnell," sagte sie zu Cómaran. Er nahm seinen Sohn, packte ich in ein kleines Körbchen und packte ihn gut ein. Dann sagte er: "Ich liebe dich, Candra, und das wird immer so sein."
"Ich liebe dich auch, Cómaran. Immer," antwortete sie. Er verließ mit Támuin den vierten Stock und ging eine Etage tiefer.

"Worauf warten wir noch ?" hetzte der Bürgermeister die Meute auf. "Wir können nicht ewig hier warten und da drinnen wartet ein Gesetz auf seine Vollstreckung. Tod der Magierbrut !" "Tod der Magierbrut !" riefen ihm einige nach, und bald stimmten alle mit ein. Schließlich fassten sie genug Mut. Der Bürgermeister trat die kleine Zauntür auf und ging zum Turmeingang. Die anderen folgten ihm, als es plötzlich mehrfach im dritten Stock hellgrün aufblitzte. "Was war das ?" rief jemand verängstigt. Die Meute hielt inne.

Aus einem Energiewirbel trat Cómaran, mit seinem Sohn. Er sah sich kurz um und erblickte einen kleinen Fluß. Aus der Ferne konnte er in der Mittagssonne ein Dorf ausmachen, und der Fluß floß zu dem Dorf hin. Es war Frühling.
"Wunderbar. Besser konnte es nicht kommen," sagte er zu sich selbst. Cómaran sah zu dem Energiewirbel und sah dann seinen Sohn an. "Es geht mir wie Candra. Ich hätte dich gern großgezogen, mein Sohn. Hier wirst du es besser haben." Dann ging Cómaran zum Fluß und kniete nieder. Er legte das Körbchen ab. Dann griff er in eine Innentasche seiner Robe und holte zwei Briefe heraus, die er ins Körbchen legte. "Hoffentlich können sie ihn lesen," sagte er zu sich. Dann holte er ein Säckchen hervor. Er nahm sein Familienamulett, das er immer bei sich trug, ab und legte es in das Säckchen, ebenso, wie zwei Ringe, die er von seinen Ringfingern abzog. Er schloß das Säckchen und versiegelte es magisch und legte es dann zu Támuin, der sich nach wie vor nicht beruhigt hatte, ins Körbchen. Cómaran versteckte das Säckchen gut.
"Du spürst, dass dies ein Abschied für immer ist, mein Sohn. Wenn du alt genug bist, wirst du hoffentlich verstehen. Leider wirst du deine Eltern niemals kennenlernen," sagte Cómaran zu seinem Sohn. Er küsste ihn. Dann nahm er das Körbchen, setzte es in den Fluß und gab ihm einen Stoß in Richtung des nahegelegenen Dorfes. Mit Tränen in den Augen sah er dem Körbchen hinterher. "Es muß sein," sagte Cómaran zu sich, bevor er zurück zum Energiewirbel ging und diesen betrat.

Es blitzte noch einmal mehrfach grün auf im dritten Stock des Magierturms.
"Die Brut zaubert wieder !" rief der Bürgermeister, der kein Freund der Magier war. "Beeilen wir uns, oder sie kommen davon !" Er wollte die Tür öffnen, doch sie war verschlossen. Er winkte die Schmiede, die in vorderster Font mitmarschiert waren, zu sich. "Hämmert diese Tür auf !" befahl er, und die Schmiede begannen.

Cómaran war gerade zurückgekehrt, als er das Hämmern hörte. Er ging nach oben, zu Candra. "Cómaran, du bist zurück ? Sag nicht, der Zauber ist fehlgeschlagen," sagte sie fassungslos, als sie ihn durch die Tür kommen sah. Cómaran lächelte. "Nein, mein Stern. Támuin ist in Sicherheit. Kein Magiergesetz kann ihm mehr etwas anhaben," antwortete er erschöpft. "Du solltest doch mit ihm gehen," sagte Candra müde.
"Als ich durch den Energiewirbel ging, ist mit eins bewusst geworden: ich kann nicht ohne dich sein," entgegnete Cómaran.
"Und was ist mit unserem Sohn ?" fragte Candra vorwurfsvoll.
"Er ist in guten Händen und wird gut erzogen werden. Um Támuin müssen wir uns keine Sorgen machen. Er wird seinen Weg gehen," antwortete Cómaran mit so viel Überzeugung wie er aufbringen konnte.
"Hörst du, wie sie hämmern ?" fragte Candra.
Das Hämmern der Hämmer gegen die Eingangstür war bis oben zu hören, wenn auch nur schwach.
"Die Tore des Wasserschilds sind solide. Da kommt so schnell keiner durch. Ich werde mich also noch ein wenig ausruhen können, bevor ich in unser letztes Gefecht ziehe. Und außerdem habe ich noch ein paar kleine Überraschungen parat," entgegnete Cómaran.
"Wo ist dein Amulett ?" bemerkte Candra das Fehlen des Familienerbes der Vélika, das sonst immer um Cómarans Hals gehangen hatte. "Támuin hat es. Was soll ich noch mit dem Amulett ? Soll ich es der Meute von Skatra geben, damit sie es an wen auch immer verschachern können ? Nein, nein, unser Sohn wird mehr damit anfangen können. Ich habe noch ein paar Schutzvorkehrungen getroffen," antwortete Cómaran.
"Das Hämmern hat aufgehört," stellte Candra fest.
"Sie sind durch das Eingangstor durchgebrochen," sagte Cómaran, "doch laß sie nur kommen."

Schließlich gab die Tür nach, und die Schmiede hatten ihr Werk vollendet. Die Moral der Meute wurde dadurch angehoben, und nach und nach stürmten sie in die unterste Etage des Turms. Im Eingangsbereich standen zwölf Rüstungen, die wie eine Sonnenuhr angeordnet waren. Jede hatte einen kleinen Schild und ein Langschwert. Diese Rüstungen setzten sich plötzlich in Bewegung. Die Meute, hielt inne.
Eine Stimme, es war die Cómarans, erklang laut: "Ihr Narren ! Glaubt ihr etwa, ich würde mich kampflos ergeben ? Ihr habt eins meiner magischen Siegel durchbrochen und einen meiner Abwehrmechanismen in Gang gesetzt. Kommt her, wenn ihr wollt. Ich bin im vierten Stock und erwarte euch. Aber ihr werdet einen hohen Blutzoll zu zahlen haben, wenn ihr mich wollt."
"Wir wollen nicht nur dich, wir wollen euch alle drei !" schrie der Bürgermeister. Das schien die Meute aus ihrer Lethargie zu reißen und sie stellten sich den Rüstungen entgegen. Die Rüstungen waren nicht annähernd so schwerfällig, wie die Meute gehofft hatte, sondern dafür, dass niemand in ihnen war, relativ beweglich. Die meisten in der Meute waren nicht kampferprobt; lediglich ein paar Wachen des Bürgermeisters begleiteten sie. Schnell wurde klar, dass mit den Flegeln nichts auszurichten war, und auch die Langschwerter der Wachen waren wirkungslos. Die Armbrustschützen verschwendeten ihre Munition, da niemand in den Rüstungen war, den sie hätten töten können. Einige aus der Meute wurden von den Schwertern der Rüstungen niedergestreckt. Die Wachen griffen die Rüstungen frontal an. Ein paar Mutige, Bauern mit Sensen und zwei Schmiede, gingen um die Rüstungen herum uns schlugen von hinten zu. Mit den Sensen wurde der Kopfteil von den Rüstungen abgetrennt, die daraufhin zusammensackten. Die Schmiede hämmerten ebenfalls auf die Köpfe, bis sie abfielen.
"Die Dinger sind nicht unbesiegbar !" rief der Bürgermeister, und die Meute faßte wieder Mut.
Schließlich waren alle Rüstungen besiegt, aber vierzehn Stadtbewohner lagen tot im ersten Stockwerk verstreut.
"Cómaran, du elender Bastard !" schrie einer der Städter. "Deine Rüstungen haben meinen Bruder getötet, der dir nie etwas getan hat. Dafür wirst du büßen !" Sie suchten nach den Treppen und nach dem Zugang zum zweiten Stock. Nach kurzer Zeit fanden sie ihn, und die Schmiede mussten erneut die Tür aufbrechen.

"Die Eiserne Garde ist geschlagen," bemerkte Candra resignierend, als das Scheppern aufgehört hatte.
"Das war mir von vornherein klar," entgegnete Cómaran, "denn die Eiserne Garde besteht nicht aus Menschen, die sich umentscheiden können, wenn die eine Taktik nicht klappt. Auch sind die Eisernen auf Dauer zu schwerfällig, obwohl ich sie mit Geschicklichkeitszaubern bestückt habe. Die Eisernen sollten die Meute nur etwas aufhalten und mir etwas Zeit zum Ausruhen geben. Deshalb sind alle Türen verschlossen und mit einem magischen Siegel versehen. Mit Ausnahme dieser hier. Dafür hat meine Kraft nicht mehr gereicht; ich hätte mit Támuin nicht den Großen Schritt machen können, wenn auch diese Tür versiegelt worden wäre. Aber verriegeln kann ich sie." Candra nickte. Cómaran ging zur Tür und verriegelte sie.

Die Tür zum Treppenhaus war aufgebrochen worden, und die Meute stürmte nacheinander durch. Auf eine Falle, die in einer der Treppen eingelassen war, achtete niemand, und so regneten plötzlich große Steine von der Decke herab, die etwa ein Dutzend der Eindringlinge erschlugen. Die Treppe war so gebaut, dass ein Ausweichen nicht möglich war.
Wieder ertönte die Stimme Cómarans: "Ich habe nicht nur magische Fallen eingebaut. Geht zurück und lasst uns in Ruhe ! Wenn ihr weitergeht, werdet ihr sterben !"
"Auf gar keinen Fall !" rief der Bürgermeister zurück. Die Meute ging weiter nach oben, bis sie die Tür fand. Auch diese war verschlossen, und die Schmiede mussten wieder ans Werk.

"Sie sind im zweiten Stockwerk," stellte Candra fest.
"Nicht ohne Verluste, wie ich ihren Schreien entnehmen konnte. Und es werden noch mehr werden," sagte Cómaran mit gequälter Stimme. Nachdem er die Tür verriegelt hatte, hatte er sich neben Candra gelegt und hielt ihre Hand.
"Du magst nicht, was du da tust. Ich verstehe dich. Auch ich habe Skatra und seine Bewohner immer gemocht. Es muss dir sehr schwerfallen," sagte Candra. Cómaran holte tief Luft.
"Das tut es in der Tat, aber bei aller Zuneigung zu Skatra gibt es Wichtigeres für mich. Dich," antwortete er und sah Candra an. Sie sah ihn auch an und lächelte müde.

Die Meute war durch die Tür zum zweiten Stock durchgebrochen. Alle Fenster waren verriegelt, und es war dunkel. Als die Anführer die Mitte des Stockwerks, welches das Zauberlabor beherbergte, wo Cómaran und Candra an ihren Zaubern feilten oder neue entwarfen, erreicht hatten, füllte sich das Labor mit einem Nebel. Schnell mussten die Vorderen husten und würgen, und schon bald fielen einige dem Giftnebel zum Opfer.
"Zu den Fenstern, damit der Nebel entweichen kann !" rief jemand von hinten. Schon fingen einige an, sich durch das Stockwerk zu tasten, um an die Fenster zu gelangen. Schließlich konnten die Fester geöffnet werden. Ein paar Städter gingen mit Fackeln in den Raum. Der Nebel löste sich um die Fackeln auf, das konnte im letzten Licht, das draußen zu sehen war, noch erkannt werden.
"Der Nebel löst sich im Feuer auf !" rief jemand.
"Fackelträger vor !" rief ein anderer. Die meisten betraten das Stockwerk erst gar nicht, nachdem der Nebel sich ausgebreitet hatte und schlossen die Tür von außen. So kamen sie ungeschoren davon.
Von draußen konnten sie aber Cómarans Stimme hören: "Ich habe euch gewarnt, ihr Narren. Ihr könnt es gern weiter versuchen, aber euer Preis wird sehr hoch sein. Wollt ihr das ?" Die Männer sahen einander an und beschlossen, zu warten, bis sich der Nebel verzogen hatte.

"Perfekt," sagte Cómaran, "es wird einige Zeit dauern, bis sich der Nebel verzieht, und ich spüre, wie mit jeder Minute etwas mehr Kraft zurückkehrt. Bis sie hier oben sind, sind sie stark dezimiert, und dann dürfen sie sich noch mit mir abgeben. Mal schauen, wie ihnen unsere kleinen Schoßtierchen in der Bibliothek gefallen." Candra war eingeschlafen.

Es war Mitternacht, als die Städter es wagten, das Labor wieder zu betreten. Der Nebel hatte sich verzogen, aber niemand, der das Labor vorher betreten hatte, hatte es überlebt, unter ihnen der Bürgermeister.
"Und wer führt uns jetzt ?" fragte einer der Bauern.
"Ich werde es tun, wenn niemand dagegen ist," antwortete der Kommandant der Stadtwache, der mitgekommen war. Niemand widersprach.
"Kann jemand mit den Schmiedehämmern umgehen ? Sieht so aus, als wären unsere Schmiede tot," fragte der Kommandant in die Runde. Zwei der Fackelträger nahmen sich die beiden Hämmer. Nach kurzer Zeit war die Tür zum Treppenhaus, das in den dritten Stock führte, gefunden und aufgebrochen. Dieses Mal gingen die Städter vorsichtiger zu Werke, hatten sie die Hälfte ihres Mobs bereits verloren. Doch auch das half nichts gegen die Falle, die in die Treppe eingelassen worden war. Bolzen schossen aus den Wänden und töteten jeden auf den Treppen.
Wieder ertönte die Stimme Cómarans: "Glaubt ihr etwa, ihr wärt die einzigen, die mit Bolzen bewaffnet sind ? Ich habe auch welche, und ich brauche dazu noch nicht einmal eine Armbrust." Es schien so, als würde das, was er gerade gesagt hatte, von einem verächtlichen Lachen gefolgt werden.
"Allmählich geht mir dieser Magier auf die Nerven," spie der Kommandant. Dann drehte er sich zu den Städtern und fragte: "Wer will nach Hause ? Niemand, der gehen will, ist ein Feigling. Er hat sich bis zum Eingang zum dritten Stock mit hochgekämpft, das verdient Anerkennung. Diese Fallen, die Cómaran aufgestellt hat, sollen unsere Kampfmoral zermürben, und ich habe schon trainierte Kämpfer an weniger schlimmen Fallen zerbrechen sehen. Wer jetzt zu seiner Familie zurück möchte, darf gern gehen. Ich verstehe das."
Einer von den Städtern rief zurück: "Wir müssen diese Magierbrut töten, gerade weil wir unsere Familien vor einem möglichen zweiten Aildarin bewahren wollen." Und so kam es, dass niemand gehen wollte. Der Kommandant sah die Leute an und nickte anerkennend.
Er holte tief Luft und sagte: "Dann lasst es uns gemeinsam durchstehen."
Die Fackelträger gaben ihm die Fackeln und nahmen die Schmiedehämmer, um die Tür aufzubrechen. Nach kurzer Zeit war auch dies geschafft, und sie betraten die Bibliothek. Es schien so, als wären dort keine Fallen, doch im Licht des Vollmondes, das durch die offenen Fenster hereinschien, konnten drei Schatten ausgemacht werden. Dann hörte es sich an, als ob etwas laut ausatmen würde. Die ersten zehn, die weiter vorrückten, erstarrten plötzlich und gingen nicht weiter. Der Kommandant trat hinter einem von ihnen und wollte ihn wachrütteln, aber der Städter war stocksteif. Der Kommandant betrachtete ihn genauer.
"Dieser verdammte Hurensohn !" entfuhr es ihm.
"Was ist, Kommandant ?" fragte jemand hinter ihm.
"Raus hier !" rief der Kommandant nur. Wer bisher im Raum war und ihn verlassen konnte, verließ ihn so schnell es ging. Draußen fragte ein anderer: "Was ist denn nun ?"
Von draußen hörten sie die Stimme Cómarans: "Ihr Narren ! Euer Wille ist aus Stein, euer Herz ist aus Stein - also sollen eure Körper auch aus Stein sein !"
"Dieser elende Bastard hat hier Steinechsen frei herumlaufen," antwortete der Kommandant, "und von der Anzahl der Schatten, die ich ausmachen konnte, sind es wohl derer drei."
"Steinechsen ?" fragte einer der Bauern.
"Ja," antwortete der Kommandant, "Steinechsen. Eine Abart der Basilisken. Nur mit dem Unterschied, dass Basilisken mit ihren magischen Blicken versteinern, und Steinechsen mit ihrem Atem. Wir müssen diese Echsen töten, und das wird verdammt nicht einfach."
"Aber warum sind dann der Magier und seine Brut nicht versteinert ?" fragte einer der Bauern.
"Weil es bestimmte magische Dinge gibt, die dagegen immun machen. Ein Ring, ein Diadem, ein Amulett, magische Tränke, ein Armband. Was auch immer," antwortete der Kommandant.
"Ihr kennt euch ja gut aus in solchen Dingen," bemerkte einer der Bauern.
"Nun, eine meiner Schwestern war Zauberin, und ich habe sie früher abgefragt, wenn sie für ihre Prüfungen lernen musste. Und wenn ich dann Zeit hatte. Da ist einiges hängengeblieben."
"Auch, wie man mit diesen Echsen umgeht ?" fragte ein anderer.
"Diese Echsen kann man töten. Ihre Haut ist weniger stark als die eines richtigen Basilisken. Gut, dass wir unsere Armbrustschützen dabeihaben. Die Bolzen können Eisenrüstungen durchschlagen, die eine bessere Panzerung abgeben, als Steinechsenhaut. Wir können von Glück sagen, dass Cómaran keine echten Basilisken hier zu haben scheint. Das würde die Aufgabe ungleich schwerer machen," antwortete der Kommandant.
Der Kommandant öffnete die Tür einen Spalt breit und sah eine der Steinechsen auf einem der Tische. Eine andere hatte einen der Versteinerten umgeworfen und fraß ihn langsam auf. Langsam öffnete der Kommandant die Tür etwas weiter und winkte die vier verbliebenen Armbrustschützen heran. Die anderen machten Platz. Sie konzentrierten ihr Feuer auf die Echse auf dem Tisch und streckten sie mit den Bolzen nieder. Die andere Echse, die gerade fraß, schreckte auf und verschwand hinter eins der Bücherregale. Die getroffene Echse zuckte noch ein paar Mal, bevor ihre Lebensgeister sie verließen. Der Kommandant schloß die Tür wieder.
"Das war eine, von mindestens drei. Wenn wir die beiden anderen erst suchen müssen, wird es sehr schwer. Die können sich überall verstecken und uns von fast überall her mit ihrem Atem versteinern. Verdammt !" fluchte der Kommandant.
"Zu dumm, dass kein Tag ist, sonst könnten wir die Biester besser sehen," bemerkte einer der Bauern.
"Ja, zu... aber ja sicher doch !" fiel dem Kommandanten etwas ein. "Steinechsen jagen nur nachts. Bei Tag schlafen sie, und wir können sie ganz einfach töten und uns ins vierte Stockwerk durchschlagen. Wir schlagen hier unser Nachtlager auf und warten einfach."

In der Zwischenzeit war Candra wieder aufgewacht.
"Ob sie an den Steinechsen vorbei sind ?" fragte sie.
"Wenn dem so wäre, würden sie an der vorletzten Tür herumhämmern," antwortete Cómaran, "also denke ich mal, dass unsere Schoßtierchen sie aufhalten. Wenn der Kommandant der Stadtwache dabei ist und noch lebt, haben wir schlechte Karten. Seine älteste Schwester hat mit mir die Magier-Akademie besucht, und wir haben viel und oft bei ihr gelernt. Er hat uns, wenn er konnte, abgefragt, wenn für uns Prüfungen anstanden. Wir haben ihn auch abgefragt, wenn er für die theoretischen Teile seiner Ausbildung als Stadtwache abgefragt hatten."
"Was seine Schwester wohl sagen würde, wenn sie das hier sähe ?" fragte Candra.
"Seine Schwester ist tot. Sie war auf einer Reise und war wohl unvorsichtig. Jedenfalls wurde sie ihm versteinert zurückgegeben. Steinechsen oder Basilisken, wer weiß," antwortete Cómaran.
"Dann weiß er, dass er nur bis zum nächsten Mittag warten muß," stellte Candra fest.
"Genau die Zeit, die ich brauche, um einen Großteil meiner Kräfte wiedererlangt zu haben. Ja, dein Nebel war eine sehr gute Idee, mein Stern. Selbst bei geöffneten Fenstern und mit Feuer würde er sich nur langsam verziehen. Genug Zeit für die Steinechsen, wach zu werden. Du bist ein wirklicher Segen," entgegnete Cómaran.
Er richtete sich auf, beugte sich über Candra und gab ihr einen Kuß. Dann legte er sich wieder hin.
"Laß uns schlafen, mein Stern. Wir brauchen alle unsere Kräfte morgen," sagte Cómaran.

Am nächsten Tag wurden beide vom Hämmern an der Tür zum nächsten Treppenhaus geweckt.
"Die Steinechsen sind tot. Nun hält sie nichts mehr auf," sagte Candra bedrückt.
"Ich weiß," sagte Cómaran und gab ihr einen Kuß.

Auch das letzte Treppenhaus war eine Todesfalle für einige der Städter, denn magische Blitze schossen quer durch das Treppenhaus und töteten ein halbes Dutzend Städter, darunter drei der Armbrustschützen. Vor der letzten Tür sammelten sie sich. Der Kommandant zählte durch. Ein Armbrustschütze. Von der Stadtwache, die mitgekommen war, war er als einziger übrig. Zwei, die mit den Hämmern der Schmiede bewaffnet waren. Dazu mehrere Bauern, die mit Dreschflegeln, Sensen und Mistgabeln bewaffnet waren. Insgesamt nicht mehr als zwanzig. Gestern waren es noch über sechzig, als sie das untere, das erste Tor aufgebrochen hatten.
"Wir haben über zwei Drittel unserer Leute in diesem Turm verloren," begann der Kommandant, "gute Leute. Freunde, Brüder, die wir niemals wiedersehen werden. Aber hinter dieser Tür liegt unser Ziel. Zwei Magier und ihr Nachkomme. Es wird eine schwere Aufgabe sein. Cómaran und Candra haben viel für uns getan. Cómaran war mit meiner Schwester auf der Magierschule und ist ein Freund meiner Familie. Er hat uns beigestanden, als uns meine Schwester versteinert zurückgebracht wurde. Und wir müssen einen Jungen töten, der vielleicht gerade mal ein paar Tage alt ist. Noch niemals in meinem Leben ist mir etwas dermaßen schwer gefallen. Und noch niemals zuvor habe ich meine Pflicht so ungern erfüllt wie heute." Der Kommandant schluckte einmal und atmete tief durch. Dann fuhr er fort: "Aber wir müssen ein Gesetz befolgen, das zum Schutz unserer Familien erlassen wurde und uns vor einem möglichen zweiten Aildarin bewahren soll. Jeder Verstoß gegen dieses Gesetz zieht die Todesstrafe nach sich, undzwar gegen alle Beteiligten. Und nur deshalb werde ich uns weiter gegen Cómaran anführen. Ich tue es nicht gern und nur mit einem schweren Herzen, das sich heute mit viel Trauer füllen wird. Aber es muß sein." Er winkte die beiden mit den Hämmern zu sich.

Cómaran hatte die Ansprache des Kommandanten gehört.
"Das war es dann wohl," sagte Candra schwach.
Cómaran stand auf. "Ich werde kämpfen bis zum Letzten. Und wenn ich den Kommandanten töten muß. Nicht gern, aber es muß sein. Wie er gesagt hat," antwortete er.
Das Hämmern begann. Cómaran ging zu einem Waffenständer am Fenster, von wo aus er seinen Zweihandstab nahm. Er konnte ihn als Waffe ihm Nahkampf einsetzen, aber der Stab war auch mit alten Runen verziert und mit Magie versehen. Ein Zauberfokus. Aus einer Schatulle, die auf einem der Tische stand, nahm er zwei Ringe und steckte jeweils einen an jeden Ringfinger. Auf sein Familienamulett musste er verzichten, denn das war bei Támuin. Aber er setzte sich ein Saphir-Diadem auf.
"Nun sollen sie kommen," sagte er.
"Du hast etwas vor ?" fragte Candra.
"Sie werden bezahlen," antwortete Cómaran entschlossen.
In diesem Moment brachen die Städter ein.

Der Kommandant befahl, stehen zu bleiben.
Dann sagte er zu Cómaran: "Alter Freund, mach es nicht unnötig schwer. Leiste keinen Widerstand, und wir ziehen das schnell durch. Wo ist euer Kind ?"
"Dort, wo ihr ihn niemals kriegen werdet. Eure lächerliche Mission ist gescheitert," antwortete Cómaran triumphierend.
"Der ist bestimmt noch bei Candra im Arm," rief der Armbrustschütze und schoß auf die immer noch im Bett liegende Candra.
Fassungslos sah Cómaran, wir der Bolzen sich in die Schläfe seiner Geliebten bohrte. Wie gelähmt stand er da und sank auf seine Knie.
"Bettelt da einer um sein Leben ?" fragte der Schütze verächtlich und lud nach.
Cómaran zeigte mit dem linken Zeigefinger auf den Schützen und rief "Néniad !" Ein magischer Blitz schoß aus seinem Finger und traf den Schützen zwischen die Augen. Der Schütze sackte tot zusammen. Die Bauern waren beeindruckt.
"Das war noch viel zu gnädig !" rief Cómaran und stand wieder auf. "Eine Frau im Kindbett ist ein einfaches Ziel, ihr Feiglinge ! Versucht euch an mir, nun, da euch die Schützen fehlen !"
"Mach es nicht so schwer !" bestand der Kommandant. "Einige, die gestern im Turm gefallen sind, haben dich gekannt."
"Das hat sie nicht davon abgehalten, sich an dem hier zu beteiligen. Selbst schuld sind sie," entgegnete Cómaran wütend.
Cómaran ballte seine linke Faust, öffnete sie in Richtung der Bauern und rief "Dágnarik !" Eine Salve Eisdolche schoß mit hoher Geschwindigkeit auf die Bauern zu, die sich vor Schreck nicht rührten. Drei wurden mitten durchs Herz getroffen und kippten tot um. Zwei weiteren wurden jeweils ein Arm verletzt, so dass sie ihre Sense nicht mehr schwingen konnten. Der Kommandant zog sein Schwert, doch Cómaran hielt seine linke Hand hoch. Der Kommandant hielt inne.
"Genug Tod für heute !" sagte der Magier. "Ich werde mich ergeben."
"Ist das ein Trick, Cómaran ?" fragte der Kommandant.
"Nein. Es ist genug. Für wen soll ich kämpfen ? Candra ist tot, Támuin ist auch weg. Alles, was mir lieb ist, ist nicht mehr. Wofür noch kämpfen ?" entgegnete Cómaran mit leerer Stimme.
"Du hattest gesagt, dein Sohn wäre an einem sicheren Ort," erinnerte ich der Kommandant.
"Er ist dort, wo Candra jetzt ist," log Cómaran. "Ihr könnt ihm nichts tun. Hört hier jemand das Schreien eines Neugeborenen ?" Nichts war zu hören.
"Dann machst du nicht weiter ?" fragte der Kommandant.
Cómaran schüttelte den Kopf. "Wartet unten auf mich. Ich möchte mich von Candra verabschieden," bat er. Der Kommandant drehte sich zu den anderen um. Sie nickten.
Er drehte sich zu Cómaran zurück und sagte: "Diesen letzten Gefallen möchten wir dir erweisen, alter Freund. Sei in zehn Minuten unten. Wir warten dort. Ich selbst werde deine Exekution vornehmen."Cómaran nickte, und die Städter zogen ab.
Der Magier ging zur toten Candra, küsste sie ein letztes Mal und verabschiedete sich: "Wir sehen uns in ein paar Minuten wieder. Und ich werde noch ein paar Städter mitnehmen." Dann legte er seinen Stab ab und nahm ihre Leiche.

Unten trat Cómaran mit seiner toten Geliebten auf dem Arm aus dem Eingangstor heraus.
"Wolltest du dich nicht von ihr verabschieden ?" fragte der Kommandant.
"Candra hat immer das Wasser gemocht. Was also läge näher, als sie am Wasser zu verabschieden ?" entgegnete der Magier. Er ging zum See, der nur wenige Schritte vom Eingangstor entfernt lag, und legte Candras Leiche ins Wasser.
"Ruhe in Frieden, mein Stern. Ich werde bald bei dir sein," sagte er so, dass es alle hören konnten. Er schaute über das Wasser und rief: "Ogor zérad varínial !"
"Was tust du, Cómaran ?" rief der Kommandant.
"Ich rufe den Schutzgeist," antwortete Cómaran.
"Schutzgeist ?" fragte der Kommandant erneut.
"Was glaubst du denn, wieso dieser Turm Wasserschild heißt ? In diesem See wohnt ein Wasserelementargeist, der diesen Turm und Skatra vor Feuersbrünsten schützt. Das ist das Geheimnis von Zérad´Noor, des Wasserschildes," erklärte Cómaran, "und du kennst auch die alte Prophezeiung."
"´Wenn der Wasserschild fällt, wird auch Skatra nicht mehr leben,´" zitierte der Kommandant.
"Ganz genau," bestätigte der Magier und lächelte verschlagen.
Langsam und leise bildete sich eine Form, eine Gestalt aus dem See heraus. Es war wie eine riesige, stillstehende Welle.
Diese Welle fragte drohend: "Ich bin Ogor, Schutzgeist über den Wasserschild und über Skatra. Wer wagt es mich zu wecken ?"
"Ich rufe dich, Ogor. Ich bin Cómaran Túran Vélika, Hüter des Wasserschildes," antwortete Cómaran.
"Was willst du ?" fragte der Wassergeist. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte man sagen könnnen, daß er über sein Aufwecken nicht gerade erfreut war.
"Du siehst eine tote Frau an deinen Gestaden. Dies ist Candra, meine tote Geliebte. Sie hat Wasser immer sehr gemocht. Daher möchte ich, dass du sie zu dir nimmst," bat der Magier.
"Deine Bitte wird gewährt, Hüter des Wasserschildes. Was willst du noch ?" fragte Ogor.
" Ich werde gleich getötet werden. Nimm mich ebenfalls zu dir, damit ich für immer bei Candra sein kann," bat der Magier.
"Das werde ich gern tun, Hüter. Wer wird dir nachfolgen ?" fragte Ogor.
"Niemand. Der Wasserschild ist gefallen. Hiermit entbinde ich dich von deinen Aufgaben und Pflichten. Kehre zurück in deine Welt, in die du schon so lange zurückwolltest. Du bist frei," antwortete Cómaran.
"Ich danke dir, Hüter. Auch wenn ich deinen letzten Bitten nun nicht mehr nachkommen muß, so werde ich sie erfüllen. Ich werde ich und deine Geliebte zu mir nehmen und mich dann in meine Welt zurückbegeben. Dieser letzte Gefallen ist mein Dank an dich für meine Freiheit," entgegnete Ogor.
"Ich danke dir, Ogor. Dafür und für die Dienste, die du seit Jahrhunderten geleistet hast. Du hast dir deine Freiheit mehr als verdient," entgegnete Cómaran und wandte sich nun wieder zu den anderen hin.
Cómaran zeigte mit beiden Handflächen auf die Städter und rief: "Sakéntar !" Die Städter waren fast vollkommen paralysiert; nur reden war noch möglich gewesen, aber die meisten hatten Angst.
Nur der Kommandant sprach: "Was wird das ?"
"Sieh selbst. Das wird euer Lohn dafür, dass ihr den Wasserschild zu Fall gebracht habt ! Und es wird meine Rache für Candra und für Támuin," antwortete Cómaran mit Verachtung in seiner Stimme. Er hielt die Spitzen seiner Daumen und Zeigefinger aneinander und spreizte seine anderen Finger. Damit zeigte er auf die Stadt Skatra und rief: "Igonári sélik Astrákem !" Der Mittagshimmel verdunkelte sich in Windeseile und es begann, auf Skatra zu regnen. Allerdings regnete es kein Wasser, sondern Feuerbälle, die an verschiedenen Stellen in der Stadt einschlugen.
"Was hast du getan, Magier ?" fragte der Kommandant entsetzt.
"Ich lasse Feuer auf Skatra herabregnen. Und da ich den Wassergeist gerade eben befreit habe, wird er die Stadt nicht schützen. Der Wasserschild ist gefallen. Also wird auch Skatra nicht mehr leben," antwortete Cómaran voller Verachtung. Dann rief er, mit der gleichen Geste wie vorher: "Bulútrum alanéri Shenga !" Eine Erdspalte tat sich auf und zog sich bis zur Stadt hin, wo sie sich in eine Serie von Erdbeben entlud, die wiederum Erdspalten aufrissen. Der Magier stellte sich zum Kommandanten und wirkte den gleichen Zauber auf den Turm, der daraufhin einstürzte.
"Die Prophezeiung erfüllt sich. Manchmal sollte man solchen - wie hast du immer gesagt ? Ach ja, Ammenmärchen - durchaus Glauben schenken," versetzte er triumphierend. Dann ging er zum Wasser zurück. Als er dort ankam, hörte der Lähmzauber auf zu wirken.
"Lauft zur Stadt, um noch zu retten, was zu retten ist," rief Cómaran und lachte. Blut lief aus seinem Mund. Die mächtigen Zerstörungszauber zollten ihren Tribut, und Cómaran war zu schwach, um weitere zu wirken oder um die Lähmung der Städter aufrechtzuerhalten.
Hustend spottete er: "Das ist eure Belohnung für eure Tat. Seht Skatra brennen. Seht Skatra erzittern. Seht Skatra einstürzen. Seht Skatra sterben. Haben sich eure Mühen gelohnt ? Eine ganze Stadt für einen Magier, seine Geliebte und seinen Sohn. Sehr gute Arbeit, Kommandant." Das war zu viel für den Kommandanten.
"Du elender Bastard !" rief er und zog sein Schwert.
"Wer ist der größere Bastard ?" erwiderte der Magier schwach, während der Kommandant sich langsam auf ihn zubewegte. "Derjenige, der sich verliebt oder derjenige, der einen neugeborenen Jungen töten will ?"
Der Kommandant wurde schneller und rammte rasend vor Wut Cómaran das Langschwert durchs Herz.
Der Magier lächelte nur und sagte: "So viel Mühe, so ein hoher Preis und doch umsonst. Mein Sohn lebt. Weit weg ist er. Tele... portation." Dann spuckte er dem Kommandanten sein Blut ins Gesicht, und seine Augen schlossen für immer. Der Kommandant zog das Schwert aus dem Körper des Magiers, der daraufhin zu Boden sackte. Der Kommandant ging zu den verbliebenen Städtern.
"Gehen wir nach Skatra und retten, was zu retten ist," sagte er, und sie gingen mit schleppenden Schritten, schwach. Sie hatten gesiegt und waren doch geschlagen.
"Hat er noch etwas gesagt ?" fragte einer der Städter.
"Daß sein Sohn lebt. Das letzte, was er sagte, war `Teleportation,´" antwortete der Kommandant.
"Was heißt das ?" fragte ein anderer Städter.
"Das heißt, daß sein Sohn an einem anderen Ort ist. Verdammt, er kann überall sein. Deshalb war kein Neugeborenes im Turm," erklärte der Kommandant bitter. "Mit anderen Worten," fuhr er fort, "wir haben versagt und dabei die ganze Stadt verloren. Eine Niederlage auf der ganzen Linie."
Der Städter erwiderte: "Nicht unbedingt. Cómaran und Candra sind tot, und ihr Kind... nun, wer weiß, was aus ihm wird."
"Nicht jedes Magierkind wird ebenfalls ein Magier, das stimmt schon," gab der Kommandant zurück, "aber das ist eine sehr vage Hoffnung. Allerdings weiß ich auch nicht, was wir da tun könnten. Wir können ja nicht jedes Neugeborene im ganzen Königreich töten, weil es vielleicht der gesuchte Junge sein könnte." Mit schweren Schritten gingen sie ihren Weg weiter, in Richtung der Überreste von dem, was noch am gleichen Morgen einmal Skatra, ihre Stadt, gewesen war.

Ogor, der Wassergeist, nahm Cómaran und Candra wie versprochen zu sich in den See.
"Hüter des Wasserschildes und seine Geliebte, seit nun für immer ein Teil des Wassers, dem ihr gedient habt. Mögen eure Seelen Frieden finden," verabschiedete er Cómaran und Candra. Dann erhob er sich aus dem See und es schien, als ob er sich auflösen würde; er kehrte auf seine Seinsebene zurück. Nach wenigen Momenten war Ogor verschwunden.

  (c) Sparrowhawk, August 2002